Wenn du mit jemandem Ärger hast und dich angegriffen fühlst, dann frage dich: «Was wäre, wenn er oder sie recht hätte?» Anstatt sich zu verteidigen, könnte man einfach mal die Perspektive wechseln, sagt die Yogalehrerin und Sanskrit-Expertin Manorama D’Alvia.
Es war, wie es oft ist: Ich war zur rechten Zeit am rechten Ort, sprich im rechten Workshop. Vom 1. bis 6. November war im Dayayoga Bern die Yogalehrerin Manorama D’Alvia aus New York City zu Gast. Die Amerikanerin gilt als Expertin für Yoga-Philosophie und Sanskrit und sprach im Dayayoga über das Leben, das Universum und den ganzen Rest.
Ich konnte leider nur am letzten Tag teilnehmen, aber was ich aus dem Workshop mitnahm, passt perfekt in mein Leben. Was ich von Manorama hörte, war mir eigentlich nicht neu. Doch dass es mir gerade heute in Erinnerung gerufen wurde, ist Gold wert.
Zum Beispiel dieses: Was gehört wird, ist wichtiger als das, was gesagt wird. Wir erzählen weiter, was wir gehört haben, so wie wir es verstanden haben und uns daran erinnern. Und das deckt sich nicht immer mit dem, was gesagt wurde. Es gibt so viele Wahrheiten, wie es Wahrnehmungen gibt.
«Ich bin verantwortlich für das, was ich sage – nicht für das, was du verstehst», lautet eine Redensart – übrigens ein Schlüsselsatz aus dem sehr lesenswerten Buch Ich stehe nicht mehr zur Verfügung. Wir gehen mit Mustern in Resonanz, die wir kennen. So geschieht es, dass wir uns angegriffen, beleidigt, gedemütigt, zurück gewiesen oder kritisiert fühlen, obwohl der andere das vielleicht gar nicht so gemeint hat.
Das passiert uns immer wieder, denn wir ziehen Situationen und Menschen an, die uns mit Ungelöstem und Unerlöstem konfrontieren, mit unseren Baustellen, unsere Kindheitsdramen, unseren systemischen Verstrickungen. So lange wir immer gleich reagieren, zum Beispiel mit Verteidigung, kann sich nichts verändern. Was hilft, ist ein Perspektivenwechsel.
Manorama schlug uns eine Übung vor, und die geht so:
Wenn du das nächste Mal mit jemandem Stress hast oder dich angegriffen fühlst, dann frage dich: «Was, wenn er oder sie recht hat?» Damit ändern wir die Perspektive und öffnen das Feld für neue Wahrnehmungen. Wenn ich dann zum andern sage: «Ich muss wohl ziemlich selbstsüchtig/egoistisch/rücksichtslos (oder was auch immer) wirken» (was nicht heisst, dass ich es bin, aber ich werde vom anderen so wahrgenommen), kann ein Wunder geschehen, wenn nämlich der andere merkt, dass ich den Standpunkt gewechselt habe und ihn oder sie verstehe. Oder es zumindest versuche.
Menschen, die das Gefühl haben, gehört oder gesehen zu werden, sind empfänglicher für das, was man ihnen sagen möchte und eher bereit, sich auf andere Menschen einzulassen. Ich kann aber einen anderen Menschen nicht hören oder sehen, wenn ich damit beschäftigt bin, mich zu verteidigen oder zu rechtfertigen.
Oft geschieht aber genau das: Ich fühle mich angegriffen und gehe sofort in die Defensive. Damit blockiere ich mich selbst und auch den andern, denn so lange wir beide darauf beharren, im Recht zu sein, ist keine Annäherung möglich. Widerstand erzeugt Widerstand. Im besten Fall finden wir einen Kompromiss, lecken unsere Wunden und trösten uns mit dem Gedanken, dass der andere auch nicht voll und ganz das bekommen hat, was er wollte.
Es wird viel von Liebe geredet, und davon, wie wichtig sie ist. Tatsache ist aber: Gesehen zu werden ist für die meisten Menschen wichtiger, als geliebt zu werden.
Gut zu wissen:
Manorama D’Alvia bietet über ihre Website auch Teleclasses an (English only)