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Das einfache Leben.

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Glarner Alpen, August 2012.

Man möchte es möglichst schön und bequem haben. Möchte sich alles leisten können, was das Herz begehrt. Erfolgreich möchte man sein und in der Welt gesehen werden – und sehnt sich doch nach dem einfachen Leben.

Letzten Sommer war ich mit meinem damals elfjährigen Sohn auf der Leglerhütte in den Glarner Alpen. Für ihn war es die erste richtige Bergwanderung, mit Rucksack und Übernachtung im Massenlager, mit Plumpsklo, ohne Dusche und unnötigen Schischi-Gaga. Dafür aber mit echtem Hüttenfeeling, Steinböcken, Gämsen und Murmeltieren. Mit Felsen zum Klettern und ursprünglicher Natur. Mein Sohn war begeistert, und ich fühlte mich erinnert an eine Zeit, in der das Reisen mit leichtem Gepäck und eingeschränktem Komfort für mich Freiheit bedeutete. Es fühlte sich gut an.

Die Leglerhütte, 2273 Meter über Meer.

Vermutlich sehnen sich nicht alle Menschen auf diesem Planeten nach dem einfachen Leben. Vielleicht waren sie schon dort und wollen nicht dorthin zurück. Oder sie haben es nie gekannt und wollen es auch gar nicht kennenlernen. Oder sie sind gezwungen, ein einfaches Leben zu führen, und würden es lieber heute als morgen an den Nagel hängen und im Luxus schwelgen, wenn sie nur könnten.

Aber wenn ihr mich fragt: Ich  finde, das einfache Leben, das hat schon was.

Als ich jung war, zogen wir mit Heilandsandalen, Latzhosen und Arafat-Tüchern um die Häuser und um die halbe Welt. Was wir auf Reisen benötigten, hatten wir dabei: Ein paar wenige, farblich nicht assortierte Klamotten, einen Mini-Gaskocher samt Ultra-Leicht-Pfanne und -Geschirr, einen Schlafsack und was man auf Zeltplätzen und in der Wildnis halt sonst noch so braucht. Wir besassen keinen fahrbaren Untersatz, hingen auf Tankstellen herum oder standen an der Strasse, um eine Mitfahrgelegenheit zu ergattern. Wir hatten ausser einem Hin- und Rückflugticket keinerlei Verbindlichkeiten. Wir hatten kein Handy (das gab es damals noch nicht für Otto Normalverbraucher, ebenso wenig wie E-Mail) und liessen monatelang nichts von uns hören, weil wir kein Geld für die Benutzung eines öffentlichen Telefons hatten. Wir hatten keinen Plan und alle Zeit der Welt.

Wir waren frei. Zumindest kam es uns so vor.

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Mount Kosciuszko, Australien 1982, und ich, 18 Jahre.

Dann wurde ich erwachsen. Ich reiste immer noch gerne, doch mochte ich mein müdes Haupt nicht mehr in der billigsten Absteige der Stadt auf ein Lager betten, auf dem noch Haare lagen von jemandem, den ich nicht kannte. Ich hatte keine Lust mehr, tagelang autostoppend an einer gottverlassenen Strasse zu stehen. Und ich hatte auch keinen Bock mehr auf langweiligen Eintopf in der verbeulten Campingpfanne. Ich wollte ein sauberes Bett, etwas Ordentliches zu essen, saubere, farblich assortierte Klamotten und einen Mietwagen von einwandfreier Qualität, damit ich kommen und gehen konnte, wann und wohin ich wollte. Ich hatte nicht mehr so viel Zeit, aber ich war gut organisiert und hatte Geld, um aus der begrenzten Zeit das Beste zu machen.

Ich war frei. Zumindest kam es mir so vor.

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Tasmanien, 1982.

Dann kam mein Sohn zur Welt und es wurde kompliziert. Keine zehn Pferde hätten mich auf einen Zeltplatz gebracht. Alles, was auch nur im Entferntesten nach rudimentärer Infrastruktur aussah und den Anschein erweckte, dass möglicherweise Improvisation beim Windelnwechseln und Zähneputzen gefragt war, mied ich wie Dracula den Knoblauch. Weil ich damals ein anstrengendes Leben führte, hatte ich überhaupt keinen Sinn mehr für das, was ich früher «Abenteuer» genannt hätte. Alles, was ich wollte, war meine Ruhe. Die ich nicht bekam. Weder auf Reisen, noch daheim. Das «einfache Leben» erschien mir damals wie ein unerreichbares Ideal – und ich meine nicht «einfach» im Sinne von weniger Annehmlichkeiten. Stattdessen dachte ich: Wenn mein Leben einfacher wäre, weniger komplex, und ich nicht dauernd tun müsste, was von mir verlangt wird, dann wäre ich frei.

Zumindest kam es mir so vor.

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Lissabon 1983. Man verzeihe mir die lausige Bildqualität.

Heute ist alles anders. Das Kind ist älter, und ich bin es auch. Die Klippen, an denen ich an manchen Tagen mit meinem Leben, dieser Nussschale, zu zerschellen meinte, sind umschifft. Ich bin in ruhigem Fahrwasser angekommen, und es ist überhaupt nicht langweilig, weil die Aussicht abwechslungsreich und faszinierend ist. Weil ich nicht auf der Suche bin, kann ich einfach sein – und weil ich dem Leben nicht hinterher renne, begegnet es mir an jedem neuen Tag, hinter mancher Biegung, an mancher Kreuzung, in neuer und in vertrauter Gestalt.

Heute bedeutet das «einfache Leben» für mich: Ich gestalte mir mein Leben und den Alltag so, wie es mir gefällt. So, wie ich es jederzeit gern betrachte. Ich kann mir nicht alles leisten, was mein Herz begehrt – doch wundersamerweise lassen die Begehrlichkeiten nach, wenn man erkennt, dass alles, was man wirklich braucht, schon da ist.

«Einfach» heisst für mich: Weniger komplex, weniger kompliziert. Weglassen, was mich unglücklich macht und was nicht zu mir gehört. Ich selbst entscheide, was mir wichtig ist und wie ich leben will, ob einfach oder kompliziert. Und ich glaube, ich war der Freiheit noch nie so nahe.

Weiterlesen und Schauen:
– Simple Living Simplified: 10 Things You Can Do Today To Simplify Your Life (Zen Habits Blog)
– Unsere Fotos von der Leglerhütte


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