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Heilung statt Strafe.

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Lampion

Auge um Auge, Zahn um Zahn. Wie du mir, so ich dir. Wer Böses tut, muss bestraft werden. Und leiden müssen alle, Opfer und Täter. Was, wenn es Heilung gäbe anstatt Strafe?

WhiteEagle ist eine von zwei Bewahrenden der «Teachings of the Delicate Lodge», eines «Bündels» uralter Weisheit, das seit einiger Zeit um die Welt reist und sich verbreitet. Am Storytelling Afternoon der Berner KaosPiloten erzählte sie eine (wahre) Geschichte, die mich sehr beeindruckt hat. Sie geht so:

In einem Indianerreservat lebten zwei junge Männer, die sich von klein auf kannten. Sie waren befreundet, und leider auch oft betrunken. Eines Tages gerieten sie sich im Suff in die Haare, und der eine tötete den anderen. Wieder nüchtern, war er am Boden zerstört und bereute seine Tat aus tiefstem Herzen, doch es war nicht mehr zu ändern.

Den Bewohnern des Reservats war es frei gestellt, den Fall der amerikanischen Justiz zu übergeben oder der eigenen, traditionellen Gerichtsbarkeit. Man entschied sich für das Letztere. Um das Urteil würdigen zu können, muss man folgendes wissen:

Traditionellerweise sorgten in dieser indianischen Gesellschaft die Söhne für ihre Eltern, wenn diese in die Jahre kamen. Verlor eine Familie einen Sohn, gefährdete der Verlust die spätere Versorgung der Eltern. Demnach war der Tod des jungen Mannes für die Familie nicht nur in emotionaler Hinsicht eine Tragödie, sondern ebenso in existentieller. 

Das indianische Gericht traf folgende Entscheidung:

Die Familie des Opfers musste den Täter als ihren Sohn adoptieren. Dieser hatte nun zwei Familien zu versorgen, nämlich seine eigene, wenn die Eltern einmal alt waren, und diejenige des jungen Mannes, den er getötet hatte. Durch seine Tat hatte er der anderen Familie eine dringend benötigte Stütze geraubt. Ergo forderte das Gericht, dass er den Verlust ersetzen müsse – und fortan die doppelte Verantwortung trug.

Auf den ersten Blick erscheint das unmöglich: Die Familie des Opfers muss den Täter adoptieren – den Mann, der ihren Sohn auf dem Gewissen hat. Auf den zweiten Blick erkennt man: Das geht nur mit Vergebung und Versöhnung – nicht nur mit dem Verursacher des Leids, sondern auch mit dem eigenen Schicksal. Die Eltern des Opfers vergeben dem Täter seine schreckliche Tat, nehmen ihn auf als ihren Sohn und lassen ihn für sie sorgen. Der Täter wiederum erhält die Chance, etwas wiedergutzumachen. Beide, Opfer und Täter, erfahren Heilung.

In unserer Gesellschaft werden Menschen, die ein Verbrechen begangen haben, mit Freiheitsentzug oder Bussen bestraft. Die Strafe hat keinerlei Bezug zum begangenen Unrecht. Der Gerechtigkeit wird Genüge getan, indem die Strafe angemessen hart ausfällt. Der Täter sitzt hinter Gittern, reuig oder nicht, die Opfer sitzen draussen, oft nicht weniger gefangen, beschäftigen ein Heer von Therapeuten und leiden an den Folgen der Tat bis an ihr Lebensende.

Wir fordern Gerechtigkeit und vergessen dabei, dass Gerechtigkeit nicht heilt. Das Ego des Opfers mag zufrieden sein, wenn der Täter für immer hinter Schloss und Riegel verschwindet. Seine Seele ist es nicht.


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